Wie Buben leichter lesen lernen
Buben lesen weniger gern und weniger gut als Mädchen, das wissen wir seit der Pisa-Studie. Massgeschneiderte Förderprogramme wie «Bewegte Geschichten» sollen Abhilfe leisten. Den Jungs gefällts und hilfts, auch wenn die genderspezifische Schulung umstritten ist.

Es tönt vor allem einfach mal lustig: Nils (12) hat einen Korkzapfen zwischen den Zähnen und liest seinem Pultnachbarn Silas etwas vor, hochkonzentriert. Die Worte kommen undeutlich aus seinem Mund. Silas (11) grinst. Ob er versteht, was Nils vorliest? «Es geht so», sagt Silas. Er weiss trotzdem genau, was sein Kollege erzählt: Es ist die Geschichte des Drachen Basilisk, die sie schon in den vorherigen Lektionen durchgenommen haben. Auch die anderen Fünftklässler sitzen zu zweit zusammen und lesen einander vor: mit Zapfen im Mund, «Üllüs müt düm glüchü Büchstübü» oder mit seitlich geneigtem Kopf, weil der Text spiralförmig auf dem Blatt steht.
«Es geht darum, dass die Kinder sich spielerisch den Texten nähern», erklärt Urs Urech (47), der die Lektion leitet. Der Lesecoach, Primarlehrer und soziokulturelle Animator besucht während knapp drei Monaten einmal pro Woche die fünfte Klasse der Primarschule Villnachern AG. Das Leseförderungsprogramm heisst «Bewegte Geschichten» und ist auf Buben zugeschnitten.
Buben hinken beim Lesen hinterher
Die Pisa-Studien zeigen seit der ersten Untersuchung im Jahr 2000, dass die Schweizer Schüler in der Lesefertigkeit schwächer sind als die Schülerinnen. Mittlerweile haben sie zwar aufgeholt, aber tendenziell hapert es bei den Buben immer noch an der Motivation: «Sie finden Lesen oft uncool», sagt Urs Urech. «Buben denken vielfach, Lesen sei nichts für sie – das sei Meitlizeugs.»
In Urechs Lesetraining geht es hauptsächlich darum, die Buben zu motivieren. «Dass sie in dieser Lektion für einmal unter sich sind, tut ihnen gut.» Ausserdem nimmt er eine Vorbildfunktion ein: «Es fehlt an den Schulen oft an männlichen Vorbildern in Bezug aufs Lesen.»
Die Geschichten, die Urech mit denSchülern durchgeht, sind Bewegungsspiele,Konzentrations- und Auftrittsübungen. Nils taucht nun mit einem Seil auf, Silas trägt einen Korb mit Augenbinden an seinen Platz, Liam (11) einen Stapel Plastikbecher – Utensilien für verschiedene Gruppenübungen. In den vergangenen Lektionen haben die Kinder sie kennengelernt, und nun führen sie nun mit ihren Klassengspänli durch.
Inhalte zu verstehen motiviert
Liam fängt an. Der blonde Bub hält ein paar Plastikbecher in der Hand. «Jetzt müsst ihr aufstehen und einen Becher nehmen», sagt er. Und macht es vor, indem er die Arme mit je einem Becher auf der Handfläche zur Seite ausstreckt. «Und jetzt zwei Minuten in dieser Position verharren.»

In der Übung geht es ums Durchhaltevermögen. Sie gehört zur Geschichte der Schildkröte, die sich auf einer langen Reise hartnäckig durchbeisst und nicht aufgibt. Danach inszeniert Silas die Übung «Raupenwanderung». Er lässt die Klassenkameraden eine Art Polonaise machen, während Nils mit einem Seil immer kleiner werdende Kreise legt, in denen seine Gspänli Platz finden müssen. Die Übungen gehören zur Geschichte der Familie der Wawuschels, die in einer engen Höhle wohnen.
«So verstehen die Kinder die Figuren und den Inhalt der Geschichten besser», erklärt Urs Urech. Zudem fördern die Übungen die Motivation: Nach einer körperlichen Aktivität fällt das Stillsitzen wieder leichter. «Die empfohlenen fünf Minuten Bewegung werden hier mit Leseförderung verbunden», lobt Christine Tresch, Verantwortliche für literale Förderung beim Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien (siehe auch Interview Seite 87). Die Fachfrau verfolgt das bubenspezifische Programm seit dessen Anfängen. Ihr gefällt, dass «über die Bewegungsübungen unerwartete Zugänge zu Geschichten erschlossen werden können, aber auch der soziale Zusammenhalt gefördert wird».
Das Lese- und Schreibförderprojekt wurde vor fünf Jahren von der Fachstelle Jungen- und Mädchenpädagogik (Jumpps) für Dritt- bis Neuntklässler entwickelt. Mitgewirkt haben Lehrer, Sprechtrainer, Körpertherapeuten, Theaterpädagogen und Schauspieler, um eine Leseförderung zu schaffen, die Bewegung, Konzentrationsfähigkeit und Auftrittskompetenz einschliesst.

Bubenspezifische Inhalte bringen die Buben auf den Lesegeschmack. «Bei der Auswahl der Lesetexte kann geschlechterspezifische Förderung durchaus sinnvoll sein», findet Afra Sturm (51), Ko-Leiterin des Zentrums Lesen an der Fachhochschule Nordwestschweiz: «Das Interesse füreine konkrete Geschichteoder einen Sachtext spielt bei Buben eine wesentlicheRolle, wenn es ums Lesenlernen geht.» So kann ein Junge etwa lesen lernen wollen, weil er Namen und Informationen zu seinen Fussballstars unbedingt selber lesen will.
Klischees ergeben hier Sinn
In den Texten der «Bewegten Geschichten» werden viele verschiedene Themen wie Ausgrenzung, Trösten, Verliebtsein, Flucht oder Verlassen der Heimat behandelt. Und hier stehen oft männliche Hauptfiguren und typische Bubenthemen im Zentrum: Abenteuer, Wagemut, Kräftemessen und Risikobereitschaft. Lauter Klischees, die hier offenbar einen Sinn ergeben. In der Einführungsphase hat die Pädagogische Hochschule Bern das Projekt evaluiert. Das Resultat: Die Lesekompetenz der Schüler verbesserte sich – besonders bei den leseschwachen.
Allerdings gab es auch in der 5. Klasse in Villnachern schon Leseratten wie Joshua (12), Liam (11) und Oliver (11). Sie verschlingen in ihrer Freizeit dicke Romane. Vom Lesetraining profitieren sie trotzdem: «Sie erhalten längere Lesetexte und kompliziertere Aufgaben», erklärt Urs Urech.
Ob lesestark oder -schwach: Die Fünftklässler in Villnachern lernen ganz nebenbei noch, zu präsentieren. Denn in den letzten Lektionen lesen sie den Drittklässlern ihre Geschichten vor und führen mit ihnen die Bewegungsübungen durch. «Auch scheue Jungs übernehmen plötzlich Verantwortung und freuen sich darüber, aufzutreten», sagt Urech.
Bislang haben rund fünfzig Deutschschweizer Schulen bei diesem Leseförderungsprojekt mitgemacht. Das Training hat einen stolzen Preis: 40 Lektionen kosten 6000 Franken, wovon aber nur die Hälfte von der Schule bezahlt werden muss –den Rest übernimmt derzeit die Drosos-Stiftung, die die Fachstelle Jumpps unterstützt.
Ausserdem können die teilnehmenden Schulen das Programm später selbständig führen. Beim ersten Mal werden die Lehrer von den Coaches darin geschult. Und Unterrichtsmaterialien sind genügend vorhanden: Die Lehrmittel umfassen mehr als 600 Seiten.
Bubenförderung hat zwei Seiten
Es braucht Zeit, die Leseleistung zu verbessern und echte Motivation aufzubauen. Förderkonzepte müssen über eine Projektphase hinaus mit dem Schulalltag verknüpft werden können. «Leseschwächere Kinder brauchen zusätzliches Training in Lesefluss und wiederholte Vermittlung von Lesestrategien», sagt Leseexpertin Afra Sturm.
Geschlechterspezifische Leseförderung ist nicht ganz unproblematisch, findet etwa Afra Sturm: «Es gibt zwar mehr Buben als Mädchen, die im Lesen nicht über das Grundniveau hinauskommen, doch es wäre fatal, wenn nur noch diese speziell gefördert würden.» Wolle man die Unterschiede in der Lesefertigkeit verstehen, müssten auch Faktoren wie der sozioökonomische Status berücksichtigt werden. «Der Unterschied in den Leseniveaus kann durch den Bildungshintergrund besser erklärt werden als durch das Geschlecht», sagt die Hochschulprofessorin.
Tatsächlich wollen auch die Macher der «Bewegten Geschichten» die Mädchen in Zukunft nicht mehr ausklammern. «Ab nächstem Jahr gibt es auch weibliche Lesecoaches und mädchenspezifische Geschichten», sagt Urs Urech.
Die weiblichen Coaches könnten theoretisch auch die Buben unterrichten. Denn das Geschlecht des Coaches kann sehr wohl motivierend wirken. Es ist aber nicht der allein entscheidende Faktor, wie neuere Untersuchungen gezeigt haben. Relevant ist hingegen, wie viel die betreffende Lehrperson über wirksame Leseförderung weiss.
DAS SAGEN DIE BUBEN
Silas (12): «Ich lese eigentlich nicht so gern. Darum gefällt es mir, dass wir zwischendurch Übungen machen und wenig schreiben müssen. Das ist nicht so anstrengend. Lesen fällt mir nun leichter. Wir haben spannende Geschichten und Bücher kennengelernt. Wenn ich lese, dann in den Ferien, und zwar Krimis.

Oliver (11): «Das Lesetraining mag ich lieber als den normalen Unterricht, weil wir Übungen machen. Jetzt kann ich schneller lesen und deutlicher vortragen als vorher. Ich lese vor allem in den Ferien.»

Jonas (11): «Wir haben spannende Geschichten kennengelernt. Manchmal lese ich gerne, manchmal nicht, es kommt drauf an wie’s geschrieben ist. Ich merke den Unterschied nun schon – nach zwei Monaten kann ich deutlicher und lauter vorlesen.»

Joshua (11): «Mir gefällt es, dass wir während dem Lesen immer wieder zwischen Übungen machen. Ich lese seit etwa der dritten Klasse gerne. Am liebsten Fantasie und Abenteuer – oft vor dem ins Bett gehen. Ich habe gelernt, beim Vorlesen die Wörter besser zu betonen, gut auszusprechen und nicht zu schnell zu lesen.»

Haci (11): «Ich habe viel gelernt – beispielsweise beim Vorlesen das Publikum anzuschauen. Ich habe auch neue Wörter kennengelernt. Das Lesen fällt mir jetzt leichter.»

Nils (12): «Es macht Spass, dass wir jüngeren Schülern Geschichten erzählen und sie damit inspirieren können. Auch sie kriegen Freude am Lesen und wir sind ihre Vorbilder. Ich lese heute mehr, aber eigentlich nur, wenn das Buch spannend ist. Lesen ist nicht mehr so mühsam. Früher war ich sehr langsam.»

André (12): «Mir sind vor allem die Konzentration- und Energieübungen geblieben, die wir im normalen Unterricht nicht machen. Besonders gut gefällt mir das Lesetraining mit der Stoppuhr. In der Freizeit lese ich vor allem Comics.»

Liam (11): «Ich habe viele verschiedene Geschichten und Bücher kennengelernt, das ist super. Ich lese in der Freizeit viel, auch dicke Bücher.»

Motivation ist die Grundlage für erfolgreiches Lesenlernen
Christine Tresch (58) ist zuständig für Lehre und Beratung am Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien
Norbert Derksen
Norbert Derksen
17.10.2017«Jede und jeder»? Was soll denn dieser Blödsinn? Hat hier mal wieder der Gender-Wahn zugeschlagen und das Gehirn vernebelt? Das indefinite Pronomen „jeder“ schließt unabhängig vom Geschlecht bereits alle ein und bedarf keiner geschlechtsspezifischen Ergänzung, die sich als Zugeständnis an den Zeitgeist auf das heute leider immer wieder vordrängelnde Weibliche beschränkt!
Norbert Derksen
Norbert Derksen
17.10.2017@ Margrit Widmer-Rüeger:
Nein, aber mich nervt die Versaubeutelung der Sprache, wenn ich beispielsweise von Mitgliederinnen und Kinderinnen lese und die Universitäten Leipzig und Potsdam sich mit ihren Herren Professorinnen lächerlich machen.
Die Flexion findet im übrigen nur in Kombination mit einem Substantiv statt!
Margrit Widmer-Rüeger
Margrit Widmer-Rüeger
17.10.2017"... das heute LEIDER immer wieder vordrängelnde Weibliche"? - Fühlen Sie sich durch "das Weibliche" bedroht???
Das Pronomen ist zwar indefinit (unbegrenzt), jedoch nicht genus-neutral! Es wird gemäss dem grammatischen Geschlecht flektiert: jeder Hund und jede Katze.